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Der Gutmensch, der Jedermannsfreund und der Zwangskosmopolit und die glückliche Fügung aller Menschen der Welt zu einem Ganzen

Ich warte auf einige Dinge. Zum Beispiel darauf, dass die Europäischen Banken den Leitzinssatz von 0% endlich an Mitmenschen, die sogar für Brot und Wasser durchwegs 20% Mehrwertsteuer bezahlen, fair weitergeben in Form von Krediten, anstatt für jeden kleinen Handgriff sofort zehn Euro zu verrechnen, nur weil es plötzlich in Banken nicht mehr üblich ist, Handgriffe zu verrichten, sondern die Entschuldigung gilt: "Oh, tut uns Leid, Stornogebühren und auch die Kartengebühr werden bei uns automatisch verrechnet, das läuft alles automatisiert". Goldman-Sachs erwähne ich nun nicht, dazu ist mir meine Tastatur zu schade. Außerdem schreibe ich nur noch, was ich selbst gerne in der Zeitung lesen will.

Ich warte auch darauf, dass facebook und die Tagespresse, das Feuilleton und die selbstständige Literatur wieder etwas leerer werden von Asylantendiskussionen, Religionskritik und Themen, die sich an Mißverständnissen aufgeilen, die nur dann entstehen können, wenn komplett Unerfahrene überfordert werden.

Was überrascht die Europäer eigentlich so? Dass es andere Religionen gibt? Dass es Globalisierung und Transportmittel gibt, mit denen man reisen kann? Dass es 200 Jahre nach der Industrialisierung nun eben zur Durchmischung und teilweisen Auflösung von bloß nationalen Identitäten kommt? Dass es immer wieder Kriege gibt und Diktatoren?

Vielleicht denke ich zu grob, aber ich bin in der Erwartung aufgewachsen, dass sich, wenn ich groß bin, alle Kontinente und Ethnien zusammen an einem großen Lagerfeuer treffen. Dass es große Sprachen geben wird, die man überall auf der Welt verwenden kann, nebst der eigenen Muttersprache und zwei, drei anderen Sprachen, die man ebenfalls beherrscht.  
Ich bin damit aufgewachsen, dass man sich neugierig nach anderen Riten und Ideen, auch religiösen Ideen und Geschichten umsieht und erkundigt, dass man reist und sich auch in unbekannten Ländern, in denen man zum ersten Mal reist, ins Cafe setzt und zuhört, sich auf der Strasse und am Markt herumtreibt und Komplimente austauscht. Wenn ich studiere, wünsche ich mir eine internationale Schule, an der Talente ausgetauscht werden, eine Universität, die mir arabische und tropische Humanmedizin lehrt, wobei Europa das Wissen einst aus Toledo eingekauft hat und ohne arabische, aramäische, jüdische und vedische Schriftrollen kaum eine Medizin erkannt hätte. 

Ich bin kein Bildungsbürger und auch kein Grün-Wähler-Gutmensch. Ich komme auch nicht aus einer Akademikerfamilie. Aber es gibt in meiner Familie Jedermannsfreunde, Vielreisende, Auswanderer - und Zwangskosmopoliten wie mich. Ich würde mich gerne als Gutmensch bezeichnen - innereuropäischer Wirtschaftsflüchtling, Rechnungswesenflüchtling und Flüchtling vor sozialen Normen trifft aber eher zu.

Ich finde es seltsam und unehrlich, dass in Österreich peinliche Bürgermeister und seltsame Innenministerinnen so tun, als würden sie ihre hochdotierten Einkommen, nicht auch für Reisen in Länder außerhalb von Europa verwenden. Warum benehmen sie sich nicht auch so, ein bisschen kosmopolitischer, weitsichtiger, eloquenter in der Begriffswahl? Oder haben sie in ihrer Jugendzeit nie ein arabisch-christliches Sprichwort gehört und sind auf Interrail nach Holland und Marokko gereist?

Ich dachte, das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert des Reisens, der Kommunikation und des Zusammenfindens aller Religionen, erneute kulturelle Hochzeit im Wissensaustausch. Die Welt, ein großer Schmelztegel. Eine letzte Runde Gespräche aller religiös Berufenen und dann der große Handshake.

Ich lasse mir diese kosmopolitische Version des Sinns und Zwecks des 21. Jahrhunderts nicht nehmen, mache mir die Mühe also, hier das 19. Jahrhundert aufzurollen.
Und nun wird das leider ein akademischer Essai.

Europa wurde faschistisch, auch mithilfe des akademischen Diskurses, aus wirtschaftlicher Angst, nationaler Begrenztheit und Idiotentum macht der liter-arisierende Nationalist  aus dem Weltbürger einen Sklaven und Juden:

Sie [die Weltbürger] verlieren das besondere und eigenthümliche Gepräge, das sie als Volk vor allen anderen Völkern auszeichnen sollte; sie verlieren alle Vorliebe für sich und allen Stolz auf sich als ein solches bestimmtes Volk: sie werden ein Allerweltsvolk, Allerweltmenschen, was man mit einem prunkenden Namen Kosmopoliten genannt hat; sie sind aber bei einer solchen Verwirrung und Schwächung ihrer Eigenthümlichkeit auf dem geradesten Wege, solche Allerweltsmenschen zu werden, die man Sklaven und Juden nennt (Ernst Moritz Arndt)

Bereits im 19. Jahrhundert verändert sich der Umgang mit dem Begriff Kosmopolitismus und entfernt sich von Idealen, die in Zusammenhang mit Aufklärung und Humanismus noch modisch waren. Infolge von kolonialpolitischen Kollateralschäden und nationalen Anspruchsdebatten verliert der schwärmerische Begriff, welcher Ende des 18. Jahrhunderts eine glückliche Fügung aller Menschen der Welt zu einem Ganzen zum Ziel versprach, an positiven Konnotationen und zu Beginn des 20. Jahrhunderts motivieren erneute Nationalismen und bürgerlicher Patriotismus im universitären und intellektuellen Milieu Autoren zur Suche nach Deutscher Physik (Philip Lenard), verite française (Maurice Barres) und diversen nationalen Wahrheiten, während Nationalstaaten wirtschaftlich expandieren und ihren Kolonien keine Konnektion untereinander ermöglichen, vielmehr dies tunlichst verhindern.

Erst später beschäftigen sich Ethnologen mit Eurozentrismus, überdenken ethnologische Forschungsergebnisse neu und erkennen Humanismus auch als bürgerlich-kapitalistischen Deckmantel für Kolonialisierung.

Im lexikalischen Bereich wird das Stichwort Kosmopolitismus immer knapper ausgeführt oder unter Internationalismus subsummiert. Das Stichwort Kosmopolitismus verschwindet aus diversen Verzeichnissen. Während der bourgeoise Kosmopolit mehrerer Sprachen mächtig war, scheitert der Nationale Universalismus als Widerspruch in sich, da jede Nation bereits als Statut ihre Nationalsprache für primär, souverän und übergeordnet postuliert.

Während Jedermannsfreund zum modernen Schimpfwort unter deutschen Studenten wird und der Zwangskosmopolite zum diskriminierten Heimatlosen, zum Apolis, wandelt sich auf intellektueller Ebene der Slogan Alle Menschen werden Brüder zum marxistisch-kommunistischen Proletarier aller Länder, vereinigt Euch.

Die Polarisierung zwischen kosmopolitischen Ansprüchen, welche von nationalen oder republikanischen, fallweise kommunistischen Ideologen als dekadent, fremdartig, auch semitisch, jüdisch oder kapitalistisch diffamiert werden, und einem diffusen Begriff von Internationalismus führt zu den Diskussionen, wie sie die Europäische Gemeinschaft  führte und derzeit erneut auf anderem Level die Europäische Union führen muss: Der Verzicht auf Souveränität der Nationalstaaten zugunsten einer globalen oder andererseits europäischen Einheit, welche auf Kriegsverzicht, Abrüstung und idealerweise sogar globale ökonomische und soziale Gerechtigkeit als Ziel nachhaltig hinarbeitet, ohne nationale bürokratische Interessen und Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen. 

Abgesehen von innereuropäischen ministeriellen Zuständigkeitsquereleien und Währungsproblemen wird wirtschaftlich, kulturell und medial global der neue Zusatz-Begriff für politische und soziale, umwelttechnische und wirtschaftliche Betrachtungen und Bemühungen des 21. Jahrhunderts.

Kommunikation, Medien und globalisierte Mobilität

Da Wissenschafter einen kosmopolitischen Sonderstatus inne hatten und militärische Einheiten Informationen und Bestrebungen mit der wissenschaftlichen Welt teilten, wurden viele moderne Einrichtungen zu gesellschaftlichem Status Quo: Durch Post und Telegrafenämter kann beinahe jeder postindustrielle Mensch universal erreichbar sein. Universale Transportierbarkeit garantiert globale Mobilität von Gütern und Menschen, Touristen und Arbeitskräften, Wissenschaftlern und Journalisten. Universale Partizipation am Weltgeschehen wird durch Medien zumindest in elektrifizierten Gegenden auf die eine oder andere Art garantiert und der Staatsmacht steht jene der Medien gegenüber.

Nicht zuletzt ist jedoch Zensur jenes Mittel, das bereits zur Zeit der Aufklärung als letzte Folge seitens staatlicher oder religiöser Amtsinhaber exekutiert wurde, um vermeintliche Tabus zu sanktionieren. Radikal äussert sich dazu der Soziologe Edgar Morin, der den Nationalstaat als paranoides Monster bezeichnet.

Klar ist nunmehr jedoch auch, daß ein wie auch immer gedachter Kosmopolitischer Realismus nicht nur mit nationalstaatlicher Logik, sondern auch mit Faktoren wie Nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und vor allem globalwirtschaftlichen Akteuren rechnen muß.

Neue und alte Nationalismen

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß die Menschheit noch lange überleben kann, wenn das gegenwärtige System souveräner Staaten fortbesteht -

kritisiert Ernst Tugendhat in seinem Beitrag Überlegungen zum Dritten Weltkrieg in Die Zeit im Jahr 1987. 

Kritik an der Republik? Gegenwärtig kaum vorstellbar. Entgegen ansatzweise internationalisierter Jugendkultur, scheinbar weltweiten Informationsnetzwerken und vermeintlich aufgeklärter Kriegs-/Berichterstattung wird im 21. Jahrhundert nach republikanischen Prinzipien mehr reglementiert und reguliert als jemals zuvor.

Nach einer Umfrage von Sofres (Juli 1986) haben 68% der befragten Franzosen auf die Aufforderung «definissez-vous» an erster Stelle nicht Geschlecht, Alter, Beruf, Aussehen, gesellschaftlichen Status, Erfolg oder sonst ein Kriterium, sondern einfach den Umstand «je suis Français» geantwortet. Man benennt sich öffentlich als Staatszugehöriger, nur im Kreise Gleichgesinnter als Protestant, Tory oder Informatiker, vielmehr fast immer als Däne, Argentinier oder Syrer.

Ebenso werden inter- und übernationale Gruppierungen - UN-Organisationen, Gewerkschaften, Sportverbände, Kirchen oder sogar die Sozialistische Internationale - im krassen Widerspruch zur Gründungsintention - nach nationalstaatlicher Zugehörigkeit aufgegliedert. Das gleiche gilt für wissenschaftliche Verbände, die ihrerseits entgegen dem wissenschaftlichen Universalismus sich nationalstaatlich organisieren und internationale Dachverbände gründen. Bei der Postenvergabe in den internationalen Führungs- und Repräsentationsgremien wird das Prinzip nationalstaatlicher Quotierung stillschweigend oder ausdrücklich, aber fast ausschließlich befolgt. Nur die geschlechterspezifische Zuordnung setzt sich in jüngster Zeit als zusätzliches Einteilungs- und Qualifizierungsprinzip, sogar Quorum durch".

Entgegen der Vermutung, wirtschaftliche Globalisierung würde zu kosmopolitischen Idealen, kultureller Konvergenz und open mindedness führen, zeigen empirische Studien, welche Nationalismus an der Stärke des Nationalstolzes sowie der Bereitschaft für ein Land zu kämpfen misst, daß wenig bis kein Potential für diese Vermutung gegeben ist.

Auf einer Skala von +1,5 bis -2,5  fallen immerhin Japan und Deutschland mit Werten zwischen -1,8 und -2,1 auf, also praktisch kaum vorhandenem Nationalstolz sowie Kampfbereitschaft. Was innerhalb der Studie als persistentes Muster aufgrund des legalen Erbes nach dem 2. Weltkrieg interpretiert wird, sowie Diskussionen innerhalb dieses Zeitraumes (1981 - 2005) über die Beteiligung bewaffneter Truppen in Übersee innerhalb friedenswahrender Einsätze.
Als auffallend nationalistisch muß die öffentliche Meinung in Mexiko und Südafrika gewertet werden, wobei diese hier als parochiale Gesellschaften differenziert werden, ebenso Argentinien weist einen Anstieg nationalistischer Tendenzen auf im beschriebenen Zeitraum.
Maximalen Wert erreichen die USA mit konstanten Werten bei +0,9 bis +1,3 womit sie gemeinsam mit den drei genannten parochialen Gesellschaften zu den nationalistischsten Ländern gehören und konstant niedrige Werte wie Spanien, England und Deutschland signifikant übertreffen.

Eine signifikante Erosion, speziell in der Bereitschaft für die Nation zu kämpfen, zeigt Südkorea innerhalb der angegebenen Epoche.  

Zerfallende Republiken
wie der Irak nahmen Zensur von Internet und Telefon stark in Anspruch. Internet wurde nur einer sehr kleinen reichen Gruppe an Haushalten und Personen ermöglicht, von Hussein persönlich genehmigt gegen stattliche Geldsummen. Telefonie war verstaatlicht und aufgrund der maroden oder nicht vorhandenen Wartung, kaum nutzbar.

Jene jungen Iraker, Syrer, Albaner, die sich mit modernen Mobilfunkgeräten bis nach Europa navigieren, kann man gratulieren. Sie sind mit ihrem Wissen und Erfahrungen über Gesellschaft und staatlichen Werten bewusster, als die meisten Menschen in Europa. Uns jungen Europäern ist nicht mehr ganz bewusst, oder nur in relativ sanfter Dosis, welche alltäglichen Konsequenzen Staatsgriffe und nationale Grenzen haben.

Man kann Flüchtlinge getrost Zwangskosmopoliten nennen. Sie haben nicht nur ihr eigenes Land kennengelernt, sondern verschiedene Länder durchreist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß - nicht im privaten Auto oder Flugzeug - immer dem öffentlichen Leben und dem Trubel am Marktplatz ausgesetzt.

Wer zu Fuß geht, lernt am direktesten. Keine Privatsphäre zu haben, lehrt einen wieder, sich mit hoher Kompetenz 24 Stunden am Tag sozial zu bewähren.

Wer seinen Bezirk, sein Land nie verlässt, kann vielleicht für eine nationale oder konservative Partei arbeiten, aber wird nicht die Kraft spüren, die die weite Welt zu einem Ganzen fügt. Ich persönlich finde das sehr langweilig.

Für eine konservative oder nationalistische Partei zu arbeiten, würde ich selbst für 8.000 Euro im Monat nicht wollen. Ich möchte nicht nur ein einziges eigenthümliches Gepräge kennen. Ich möchte unzählige Gepräge kennen. Ich habe mehr Kraft, die ich einsetzen muß, um zufrieden zu sein. Mit nur einem Gepräge umgehen zu können, die genaue Bedeutung von nur einer Eigenthümlichkeit zu kennen, halte ich für unbemüht und tugendlos.

Ich bete nicht zu Gott, ich bete nicht für die Medien. Aber ich bete für das Internet und dass die Verbindung nicht abreissen möge, als die glückliche Fügung aller Menschen der Welt zu einem Ganzen.

Die Autorin ist geboren in Österreich 1982


Bildrechte: Creative Commons, CC (BY-SA 3.0)
"Mercator Globus in Duisburg-Huckingen mit Gegenlicht" von "Oceancetaceen Alice Chodura"
Originalbild hier: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mercator_Globus_6_%28Duisburg-Huckingen%29.JPG



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[Kolumne/Sahra Gabriele Foetschl/10.12.2015]





    Kolumne/Sahra Gabriele Foetschl


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